Fast alle Bereiche unseres Alltags laufen mittlerweile digital ab. Egal, ob wir Bankgeschäfte tätigen, shoppen oder Essen bestellen: all diese Dinge erledigen wir selbstverständlich digital mit Hilfe der Apps auf unseren Laptops, Tablets und Smartphones. Nur unsere Gesundheit scheint noch nicht im digitalen Zeitalter angekommen zu sein.
Bei Arztbesuchen hat der Doktor immer noch eine Patientenakte aus Papier vor sich zu liegen. Auch bei der Visite im Krankenhaus hat die Oberärztin einen Zettel dabei, auf dem er den Zustand des Patienten einträgt.
In anderen EU-Ländern wie Estland oder den Niederlanden sind digitale Arbeitsprozesse im Gesundheitswesen bereits fest etabliert. Seit wenigen Monaten zeichnet sich jedoch auch in Deutschland endlich der Trend zur Digitalisierung des Healthcare-Bereiches ab. Wie kam es dazu und welche Neuerungen können wir in Deutschland erwarten?
Status Quo in Europa
In vielen EU-Staaten ist die Gesetzeslage liberal, sodass auch neue medizinische Entwicklungen schnell getestet und marktreif gemacht werden können. Dies hat dazu geführt, dass zum Beispiel Estland bereits seit Jahren eine elektronische Gesundheitsakte eingeführt hat und mittlerweile zum Spitzenreiter für E-Health in ganz Europa aufgestiegen ist.
Bereits seit 2008 besteht in Estland eine flächendeckende Telematikinfrastruktur (TI) zur Umsetzung digitaler Gesundheitsangebote. Damit die Versorgungsqualität gesteigert werden kann, wurde ein Datenaustausch zwischen Patienten, Leistungserbringern, Apotheken und dem estnischen Krankenversicherungsfonds über unterschiedliche dezentrale Informationssysteme ermöglicht. Um auf die Plattform zugreifen zu können, werden eindeutige Personenkennzeichen vergeben. Rund 98 Prozent der estnischen Bevölkerung haben eine elektronische Patientenakte – auch das elektronische Rezept ist zur Verschreibung von Medikamenten bereits ein fester Bestandteil der medizinischen Versorgung in Estland.
In vielen EU-Staaten können medizinische Entwicklungen schnell getestet und marktreif gemacht werden
Sogar Arzneimittel können in den meisten EU-Ländern bereits über Online-Apotheken bestellt und bezogen werden. Einer der Vorreiter in diesem Bereich sind die Niederlande, die den Versandhandelsmarkt in ganz Europa dominieren und dadurch sicherstellen, dass Menschen ihre Medikamente bekommen.
Situation in Deutschland
Auch in Deutschland ist der Versandhandel mit Arzneimitteln seit einigen Jahren erlaubt. Durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) im Herbst 2016 sind Versandapotheken aus der EU nicht mehr an die in Deutschland gültige Preisbindung für rezeptpflichtige Medikamente gebunden. Als Reaktion darauf gibt es Bestrebungen, den Versand rezeptpflichtiger Arzneimittel komplett zu verbieten.
Seit 2018 besitzen Patienten die Möglichkeit, sich bei ihrer Krankenkasse eine elektronische Patientenakte einrichten zu lassen. Diese enthält neben den persönlichen Daten des Patienten auch Informationen über Medikation oder Arzneimittelunverträglichkeiten. Dadurch sind die Daten des Patienten schneller verfügbar, zum Beispiel bei Notfällen oder beim Arztwechsel. Auf die elektronische Patientenakte hat nur der Versicherte allein Zugriff. Ärztinnen können auf die elektronische Patientenakte nur durch ein spezielles Verschlüsselungsverfahren im Beisein des Patienten zugreifen.
Ärzte können jetzt eine Behandlung per Video durchführen. Therapieunterstützende Online-Angebote sind bereits seit einigen Jahren möglich.
Auf dem Ärztetag 2018 wurde das Fernbehandlungsverbot gelockert. Das bedeutet, dass Ärzte in bestimmten Fällen eine Behandlung per Video durchführen können, ohne dass sie vorher mit dem Patienten in persönlichen Kontakt getreten sind. Bis dato war die Durchführung von Online-Behandlungen an bestimmte Regelungen geknüpft und ermöglicht Ärzten und Psychotherapeutinnen nun neue Möglichkeiten in der Versorgung. Therapieunterstützende Online-Angebote wie Minddistrict sind bereits seit einigen Jahren möglich. In Großbritannien gibt es bereits seit 2010 Anbieter, die eine ärztliche Behandlung ermöglichen, die vollständig online stattfindet.
Warum hinkt Deutschland bei der Digitalisierung hinterher?
In Deutschland werden digitale Geschäftsmodelle durch eine teilweise veraltete Gesetzeslage behindert. Während in anderen Ländern ständig neue, digitale Anwendungen entwickelt und schnell auf den Markt gebracht werden können, welche die Gesundheit der Nutzer verbessern, sind die Hürden dafür in Deutschland besonders hoch.
Eine besonders große Hürde stellt vor allem der Datenschutz dar. Verbraucherschutzorganisationen und Politiker weisen bei jeder digitalen Neuerung darauf hin, dass der Datenschutz unbedingt gegeben sein muss oder bestimmte Erfindungen aufgrund von Datenschutz-Gesetzen nicht in Betrieb genommen dürfen. Prinzipiell ist eine gewisse Vorsicht gut, jedoch basieren datenschutzrechtliche Bedenken häufig auf Unwissen und Angst. Mehr Aufklärung und eine an die digitalisierte Welt angepasste Gesetzeslage dürften hilfreich sein, um in der Bevölkerung künftig mehr Akzeptanz für digitale Gesundheitsangebote zu schaffen.
In Deutschland stellt der Datenschutz eine besonders große Hürde dar.
Aber auch verschiedene Lobbygruppen haben in den vergangenen Jahren dafür gesorgt, dass die Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland nur langsam vorangeschritten ist. So arbeiteten beispielsweise die deutschen Apotheker lange Zeit gegen den Online-Handel mit Arzneimitteln – wenigstens Rx-Medikamente sollten nicht online angeboten werden können. Das Hauptargument bestand darin, dass Vor-Ort-Apotheker ihre stationären Apotheken durch den wachsenden Handlungsspielraum von Versandapotheken gefährdet sahen. Es ist verständlich, dass stationäre Apotheker ihr Geschäft in Gefahr sehen. Es ist allerdings eher im Interesse der Patienten, ihnen eine Wahlfreiheit zu ermöglichen und die Möglichkeiten der Digitalisierung zur Stärkung der eigenen Apotheke zu nutzen.
Erst mit dem E-Health-Gesetz, welches der Deutsche Bundestag im Dezember 2015 beschloss, kam der Stein für die Digitalisierung des Gesundheitswesens ins Rollen. Im E-Health-Gesetz wurden im Wesentlichen die folgenden Punkte geregelt:
- Einführung der elektronischen Patientenakte
- Anbindung von Ärzten und Krankenhäusern an die Telematikinfrastruktur
- Anspruch auf einen Medikationsplan
- Mehr Leistungen bei der Telemedizin
Bereits eingeführt wurden seitdem die elektronische Patientenakte sowie der Anspruch auf einen Medikationsplan (für Patienten, die mindestens drei Medikamente zu sich nehmen). Die Beschlüsse und Grundlagen, die im vergangenen Jahr geschaffen wurden, erlauben jedoch einen optimistischen Blick in die Zukunft.
Was bringt die Zukunft?
Durch die verpflichtende Anbindung von Ärztinnen, Krankenhäusern, Psychotherapeuten, Krankenkassen und Apotheken an die Telematikinfrastruktur wird aus den verschiedenen Bestandteilen des E-Health-Gesetzes, die in den vergangenen Jahren ausgearbeitet wurden, ein ganzheitliches digitalisiertes Gesundheitswesen.
Die Verbesserung der Pflege ist ein Thema, das die derzeitige Bundesregierung derzeit prioritär verfolgt. Neben der Anwerbung von mehr Pflegekräften steht auch die Digitalisierung von Arbeitsprozessen auf der Agenda. Die Zahl der Pflegeeinrichtungen, die auf eine digitale Pflegedokumentation setzt, ist noch gering, nimmt jedoch langsam zu. Ein gutes Vorbild hierfür ist in asiatischen Ländern wie Südkorea und Japan zu finden, wo Pflegeroboter für die Unterhaltung von Pflegebedürftigen sorgen oder ihnen das Essen und die Tabletten reichen, während die menschlichen Pflegekräfte sich um die eigentliche Pflegearbeit kümmern.
Die Roboter-Robbe „Paro“ ist hilfreich für Menschen, die sich einsam fühlen. Wenn Paro gestreichelt wird, gibt er Geräusche von sich – die Reaktion auf das eigene Handeln löst das Belohnungszentrum im Gehirn der Patienten aus und bringt positive Effekte hervor. Paro wird häufig bei der Arbeit mit Demenzpatienten eingesetzt.
Voraussetzungen für E-Mental-Health sind besser geworden und es ist einfachter blended care anzubieten.
Die Voraussetzungen für E-Mental-Health sind durch die Lockerung des Fernbehandlungsverbotes noch besser geworden. Während E-Mental-Health-Anbieter bislang vor allem auf psychoedukative Module abzielten und maximal eine psychologische Beratung per Videotelefonie anbieten konnten, ist es für sie nun einfacher, Blended Care anzubieten. In Deutschland setzen bereits Kliniken wie Asklepios und Vitos sowie das St. Alexius/ St. Josef Krankenhaus in Neuss auf Blended Care.
Viele Jahre lang stockte die gesundheitliche Versorgung in Deutschland. Anstatt – wie bei den europäischen Nachbarn – mutig auf digitale Technologien zu setzen, bremsten sich die verschiedenen Player im Gesundheitswesen gegenseitig aus. Durch den Fahrplan, den das E-Health-Gesetz vorgibt, gehören diese Zeiten endlich der Vergangenheit an. Nun gilt es, die Vorhaben so schnell wie möglich in die Praxis umzusetzen.
Christian Krohne ist Kommunikationsberater aus Berlin. Ihm liegen Themen rund um die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesen sehr am Herzen.