Seit vielen Jahren können wir wiederholt von robusten Studienergebnissen zur Wirksamkeit von E-Mental-Health in der Behandlung psychischer Erkrankungen lesen. Dennoch sind Online-Interventionen im deutschen Gesundheitssystem noch nicht Teil der Regelversorgung. Es besteht jedoch Grund zum Optimismus, denn auch in Deutschland gibt es bereit mutige Pionierinnen und Pioniere, die beeindruckende E-Mental-Health-Projekte implementiert haben. Ihnen haben wir unser Symposium ‚E-Mental-Health Best Practices‘ in Berlin gewidmet.
Best Practices und ein Blick in die Zukunft
Um einen Überblick über wirksame E-Mental-Health-Projekte jenseits der universitären Forschung zu geben, haben wir unsere Partner eingeladen, ihre Best Practices aus dem realen Versorgungsalltag vorzustellen. Hinzu kamen internationale Projekte aus den Niederlanden und Großbritannien.
Bei den anschließenden Round Tables konnten unsere Gäste mit den E-Health-ExpertInnen ins Gespräch kommen und Fragen zur Entwicklung und Implementierung von digital unterstützten Behandlungsabläufen stellen.
Roundtable mit E-Mental-Health ExpertInnen
Abschließend diskutierten die E-Health-ExpertInnen Prof. Dr. Corinna Jacobi (Technischen Universität Dresden), Dr. Florian Fuhrmann (Geschäftsführer, KV Telematik), Ralph Molner (Versorgungsprogrammleiter E-Health, BARMER) und Nicolas Stoetter (Leiter Digital, MindDoc by Schön Klinik) darüber, wie die Zukunft der psychotherapeutischen Prävention und Behandlung in Deutschland aussehen wird. Dabei waren sich alle Beteiligten einig, dass E-Health in Zukunft fester Bestandteil des Versorgungsalltags werden wird. Digitale Lösungen werden Behandelnde jedoch nicht ersetzen, sondern ihre Arbeit unterstützen und die Behandlungsqualität verbessern.
Forschungslage
Die Wirksamkeit von Online-Interventionen ist unbedingte Voraussetzung für einen sinnvollen Einsatz digital unterstützter Präventions- und Therapieangebote. An zahlreichen Universitäten wird aus diesem Grund an der Entwicklung und Evaluation von Online-Inhalten gearbeitet. Frau Dr. Elena Heber leitete das Symposium mit einem Überblick über die Forschungslage ein.
Dabei betonte Sie, dass psychische Erkrankungen eine hohe Prävalenz aufweisen und ein Großteil der Betroffenen fehlversorgt wird oder unbehandelt bleibt. Dies führt zu einer „hohen Krankheitslast und immensen ökonomischen Kosten“.
E-Mental-Health ist ein vielversprechender Weg, die Versorgung effektiver und günstiger zu gestalten
Gleichzeitig stellte Frau Dr. Heber heraus, dass es wirksame Online-Interventionen gibt, welche „ein vielversprechender Weg sind, die Versorgung effektiver und günstiger zu gestalten.“
Das GET.ON-Institut, dessen stellvertretende Geschäftsführerin Frau Dr. Heber ist, hat in Zusammenarbeit mit Minddistrict und der Leuphana Universität im Rahmen eines EU-geförderten Forschungsprojekt eine Vielzahl von wissenschaftlich nachweisbar wirksame Interventionen entwickelt.
Anhand aktueller Forschungsergebnisse konnte Frau Dr. Heber zeigen, dass diese Online-Interventionen bei verschiedenen Störungsbildern „substantielle und langfristig stabile Effekte“ zeigen. Besonders interessant waren die Ergebnisse in Bezug auf das Modul zur Depressionsprävention. Dabei handelt es sich um das „weltweit erste Internet-Programm, das nachweislich das Auftreten einer Depression verhindern kann.“
Online-Klinik MindDoc by Schön Klinik
Mit großer Spannung wurde der Vortrag von Nicolas Stoetter, dem Leiter Digital der Schön Klinik, erwartet. Im vergangenen Jahr hat er die Online-Klinik MindDoc ins Leben gerufen, welche seitdem mehrere hundert ambulante PatientInnen behandelt hat. Dies war ganz ohne eigene Stationen und Betten, sondern nur mit einem kleinen Team von Psychotherapeuten und Intervention Developer möglich. Nach einem 2-stündigen persönlichen Gespräch in einer der deutschlandweit 17 Schön Kliniken, in dem die Diagnostik und Aufklärung erfolgt, findet die eigentliche Psychotherapie ausschließlich online über verschiedene Module und Videogespräche statt.
Mit Bezug auf die Motivation der Schön Klinik, ein solches Online-Angebot zu entwickeln, stellte Herr Stoetter folgende Hypothese auf: In Zukunft wird es mehr darauf ankommen, dass viele Menschen niedrigschwelligen Zugang zu wirksamer und kosteneffizienter Versorgung online haben, als dass wie bisher, nur wenige Betroffene nach langer Wartezeit einen qualitativ sehr hochwertigen konventionellen Psychotherapieplatz erhalten.
In Zukunft wird es darauf ankommen, dass viele Menschen niedrigschwelligen Zugang zu wirksamer und kosteneffizienter Versorgung haben
Diesen Gedanken rundete er mit einem Vergleich ab. Einerseits gab es in den 70er Jahren hochpreisige Fluggesellschaften, deren Service eher an ein 5-Sterne-Restaurant erinnert, und die nur von einigen wenigen Menschen genutzt werden konnten. Andererseits wurden in den 80er und 90er Jahren auch günstigere Fluglinien gegründet, welche zwar weniger Komfortmerkmale boten, es jedoch einer breiten Masse an Menschen ermöglichen, Flugreisen überhaupt erst in Anspruch zu nehmen. Die hochpreisigen Luxusflieger hingegen wurden zunehmend aus dem Markt gedrängt.
Übertragen auf die psychotherapeutische Versorgung bedeutet dies, dass nachweislich wirksame Online-Interventionen in Zukunft einer breiten Masse an Menschen zeitnahen Zugang zu niedrigschwelliger Hilfe ermöglichen werden. Klinikbetreiber sind daher zum Umdenken gezwungen, wenn sie weiterhin wirtschaftlich erfolgreich sein möchten: Wie die luxuriösen Fluglinien der 70er Jahre müssen sie sich auf den Wandel in der Versorgungslandschaft einstellen und Online-Angebote in ihre Behandlungsabläufe einbeziehen.
Herr Stoetter verwies auch auf das Unternehmen Airbnb, eine Plattform zur Buchung und Vermietung von privaten Unterkünften. Dieses sei der größte Hotelanbieter der Welt, ohne auch nur ein einziges eigenes Bett zu besitzen. Möglicherweise, so Stoetter, wird die größte psychiatrische Klinik der Welt in Zukunft mit Hilfe von E-Mental-Health auch ohne eigene Betten auskommen.
Online-Prävention der BARMER und der SVLFG
Dass E-Mental-Health nicht nur in der Psychotherapie wirksam eingesetzt werden kann, sondern auch für niedrigschwellige Präventionsangebote geeignet ist, zeigte Dr. Elena Heber, stellvertretende Geschäftsführerin des GET.ON Instituts. Sie stellte die Präventionsprojekte der BARMER und der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau vor. Im letzteren können Versicherte in den „grünen Berufen” eine Online-Intervention zur Depressionsprävention nutzen.
Dr. Elena Heber über digital unterstützte Präventionsangebote der BARMER
Das seit 2015 bestehende Präventionsangebot der BARMER umfasst neben einem Modul zur Prävention einer Depression auch Online-Interventionen zur Stressbewältigung, Reduktion von Schlafstörungen und Depressionsprävention bei Versicherten mit Diabetes.
In einer begleitenden Studie wurde festgestellt, dass die Online-Interventionen auch im Einsatz durch die BARMER ähnlich starte Effekte bewirkten, wie die zuvor durchgeführte universitäre Studien vermuten ließen. Zudem berichtete Frau Dr. Heber von anhaltendem Interesse sowie Zufriedenheit mit der Intervention auf Seiten der Versicherten.
Großbritannien: E-Health und Betriebliche Gesundheitsförderung
Evidenzbasierte Online-Interventionen gehören in Großbritannien zur Regelversorgung psychischer Erkrankungen. Doch auch in der Prävention werden sie eingesetzt, um Angestellten mit psychischen Belastungen niedrigschwellige Hilfsangebote zu unterbreiten. Umgesetzt wird dies durch spezielle Unternehmen, welche von Arbeitgebern mit der Implementierung von Employee Assistance Programs (EAP) beauftragt werden.
Joscha Hofferbert über digital unterstützte Betriebliche Gesundheitsförderung
Den Hintergrund für diese Bemühung bilden britische Studienergebnisse, nach denen den jährlichen Gesamtkosten durch Abwesenheit vom Arbeitsplatz mehr als doppelt so hohe Kosten durch Präsentismus, also der Anwesenheit trotz Erkrankung, gegenüberstehen. Präsentismus geht nicht nur mit hoher Belastung für die Betroffenen einher, sondern führt durch die reduzierte Leistungsfähigkeit der Angestellten auch zu wirtschaftlichen Einbußen der Unternehmen. Wenn man berücksichtigt, dass laut des Mind Workplace Wellbeing Index 69 % der Angestellten Symptome psychischer Probleme zeigten, ist die Notwendigkeit niedrigschwelliger Hilfsangebote schnell erkennbar.
Daher arbeitet Minddistrict eng mit EAP-Providern zusammen, um in Kooperation mit (Groß)unternehmen neben traditionellen Telefoncoachings auch Online-Interventionen und Tagebücher anzubieten. Die Inhalte reichen hier von Stressbewältigung und Entspannung über Schlaf- und Problemlösetrainings bis hin zu Themen wie gesunde Lebensweise, Selbstwertgefühl und Partnerschaft.
Durch frei gewordenen Behandlungskapazitäten können mehr Teilnehmende Hilfsangebote in Anspruch nehmen
Die EAP- Provider stellen neben der Prävention auch Psychotherapieplätze für die Angestellten bereit und begleiten sie auch im Anschluss an die Behandlung in der Nachsorge. Dabei werden beispielsweise Module zur Behandlung von starkem Stress, Depression, Angststörungen sowie Panik- und Zwangsstörung verwendet.
Angepasst auf die Bedürfnisse der Teilnehmenden bieten die EAP-Provider die Online-Interventionen in 3 verschiedenen Settings an:
- Selbsthilfe-Trainings
- Begleitete Selbsthilfe mit schriftlichen Feedbacks
- Blended Care – Kombination von Online- und Face-to-Face-Sitzungen
Da die Teilnehmenden Psychoedukation und andere Routineaufgaben, wie z.B. Entspannungsübungen in den Online-Modulen selbstständig bearbeiten können, konnte die Behandlungszeit auf Seiten der TherapeutInnen um bis zu 50 % reduziert werden. Durch die frei gewordenen Behandlungskapazitäten konnten mehr Teilnehmende Hilfsangebote in Anspruch nehmen. Die Erfolgsraten liegen bei 72%.
Somit tragen EAP-Provider durch den Einsatz von evidenzbasierten Online-Interventionen zu einer Verbesserung der Lebensqualität und Leistungsfähigkeit bei einem zunehmend wachsenden Teil der Belegschaft bei.
Niederlande: Hausarztzentrierte gestufte Versorgung
Eine weitere internationale Best Practice ist Ketenzorg, das hausarztzentrierte Stepped-Care-Projekt, welches die psychotherapeutische Versorgung in der Region Nordbrabant, im Süden der Niederlande, abdeckt.
Alle Akteure greifen hier auf dieselbe E-Mental-Health Plattform zu, wobei die Datenhoheit stets bei den PatientInnen bleibt. Je nach Beschwerdebild können Teilnehmende, im ersten Schritt webbasierte Selbsthilfe-Angebote in Anspruch nehmen. Der Minddistrict Selbsthilfe-Katalog ist rund um die Uhr verfügbar und bietet neben verschiedenen Trainings, z.B. zur Stressbewältigung und Entspannung, aber auch zur Verbesserung des Schlafes, der Problemlösekompetenz und zur Reduktion des Alkoholkonsums, auch passende Online-Tagebücher.
Stepped Care in Nordbrabant (südliche Niederlande)
Sollte die Selbsthilfe nicht ausreichen, können sich die Betroffenen an ihre Hausarztpraxis wenden. Auch dort werden Online-Interventionen angeboten, welche je nach Beschwerdebild mit schriftlichen Feedbacks, Videogesprächen oder persönlichen Gesprächen vor Ort kombiniert werden. Bei Bedarf beziehen die Hausärzte Psychotherapeutinnen unterschiedlichen Spezialisierungsgrades mit in die Behandlung ein.
Da alle Behandelnden auf dieselbe E-Mental-Health Plattform zugreifen, sind sie immer über die bereits erarbeiten Inhalte, Erfolge und Misserfolge informiert und können nahtlos daran anschließen. Die Hausärzte fungieren als Gatekeeper für den Zugang zu intensiver psychotherapeutischer Versorgung, wodurch die begrenzten Ressourcen des Gesundheitssystems bedarfsgerecht eingesetzt werden.
E-Mental-Health sollte an bestehende Versorgungsstrukturen angebunden werden, anstatt sie ersetzen zu wollen
Auch für die PatientInnen ergeben sich mehrere Vorteile: Sie erhalten zeitnah niedrigschwellige Behandlungsangebote in Form von Selbsthilfe oder Versorgung über ihre vertraute Hausarztpraxis. Mit diesen Interventionen können sie online zeit- und ortsunabhängig an ihrer Gesundheit arbeiten.
Gleichzeitig steht ihnen bei Bedarf auch der Weg in intensivere Behandlungssettings offen. Auch nach der Behandlung können sie Minddistrict weiterhin nutzen, um hilfreiche Inhalte und Übungen zu wiederholen, Rückfallpräventionspläne zu erstellen. Über das sichere soziale Netzwerk in der Plattform können sie weiterhin ihre Angehörigen und Freunde in ihren Weg zur Besserung mit einbeziehen.
Ketenzorg ist somit nicht nur ein Bespiel für die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Hausärztinnen und Psychotherapeuten. Es zeigt auch, dass E-Mental-Health an bestehende Versorgungsstrukturen angebunden werden kann, anstatt sie ersetzen zu wollen. So können die vorhandenen Ressourcen effizient und bedarfsgerecht eingesetzt werden.
Mehr erfahren?
Sehen Sie sich die Präsentationen der Veranstaltungen an:
- Einstiegsvortrag Forschungslage
- Online-Klinik MindDoc by Schön Klinik
- Niederlande: Hausarztzentrierte gestufte Versorgung
- Großbritannien: E-Health und Betriebliche Gesundheitsförderung
Möchten Sie mehr über internationale E-Mental-Health Best Practices erfahren? Dann lesen Sie diese Blogeinträge:
- Ich musste E-Health einfach selbst ausprobieren!
- Geschichte einer Patientin
- Videogespräche - Erfahrungen eines Patienten
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